Bahr, ein prominenter sozialdemokratischer Politiker, war der Architekt der sogenannten Ostpolitik von Bundeskanzler Willy Brandt, die ein Tauwetter in den westdeutschen Beziehungen zur Sowjetunion und zu Polen und später auch zu Deutschland bewirkte.
Schon 1963 plädierte Bahr, der unter der Regierung Brandt (1969-1974) in zwei getrennten Ministerien tätig war, für „Wandel durch Annäherung“. Die kühne Idee löste bei vielen Westdeutschen Empörung aus. Das Land befand sich mitten im Kalten Krieg und die Berliner Mauer, die von der DDR gebaut wurde, um ihre Bürger an der Ausreise zu hindern, war erst vor zwei Jahren errichtet worden. Der SPD-Stratege argumentierte jedoch, dass sich die angespannten Beziehungen zwischen Westdeutschland und dem kommunistischen Block nicht allein mit mehr Anfeindungen oder Druck ändern würden.
Es geht um Interessen, nicht um Menschenrechte
Die Entspannungspolitik basierte auf der Anerkennung des Status quo und auf der Annahme, dass engere wirtschaftliche Verflechtungen zu politischer und gesellschaftlicher Öffnung führen würden. Erfolgreiche Diplomatie war für Egon Bahr gleichbedeutend mit einem nüchternen Interessenausgleich. Er sagte einmal zu einer Gruppe von Schülern: „In der internationalen Politik geht es nie um Demokratie oder Menschenrechte. Es geht um die Interessen von Staaten.
Auch nach dem Untergang der UdSSR 1991 oder angesichts des demokratischen Verfalls Russlands unter Putin in den 2000er Jahren änderte Bahr seine Meinung nicht und setzte sich bis zu seinem Tod 2015 für die Einbeziehung der Moskauer Regierung in eine europäische Sicherheitsordnung ein. Ich war nicht allein. Unter den sozialdemokratischen Politikern hatte er viele Anhänger.
Der aktuelle SPD-Chef Lars Klingbeil sieht darin jedoch einen Fehler. „‚Wandel durch Handel‘ war das Gebot der Stunde. Dieses Konzept ist gescheitert“, sagte er bei der Bahr-Gedenkveranstaltung in der Zentrale der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin.
Russland verstehen
War die SPD naiv? „Rückblickend müssen wir uns natürlich fragen, ob wir den russischen Einmarsch in Georgien 2008, die Krim-Annexion 2014 oder die Ermordung russischer Dissidenten in London und Berlin anders hätten bewerten sollen“, sagte Klingbeil im Tonfall des Hohns, selbstkritische Stimme. Der Politiker fragt sich auch, ob die Sozialdemokraten „die Zeichen der Zeit falsch eingeschätzt“ haben.
In den letzten Jahren wurden viele deutsche Politiker, die versuchten, das gewalttätige Vorgehen von Wladimir Putin zu rationalisieren oder herunterzuspielen, oder die sich über die wachsende Abhängigkeit Deutschlands von russischem Gas lustig machten, abfällig als „Putin-Versteher“ oder „Russland-Versteher“ (wörtlich „Putin-Kenner“) bezeichnet “ und „Russische Kenner“). Davon gab es viele, vor allem in den deutschen Bundesländern, die Teil des ehemaligen DDR-Gebiets waren.
Nord Stream-Warnungen
Größter „Russland-Insider“ war und ist der ehemalige sozialdemokratische Bundeskanzler Gerhard Schröder, der Deutschland von 1998 bis 2005 regierte. Der SPD-Politiker spielte zusammen mit Putin eine Schlüsselrolle beim Bau der beiden untergetauchten Nord-Stream-Gaspipelines. Sie verbinden Deutschland und Russland direkt durch die Ostsee. Die Pipelines ermöglichen es Russland somit, Energie an Deutschland zu verkaufen, ohne durch konkurrierende Länder wie die Ukraine und Polen zu gehen, was nach Ansicht einiger Strategen den Druck des Kreml auf diese Länder erhöht.
„Wir warnen immer vor Nord Stream“, sagt die Ukrainerin Lyudmyla Melnyk, Wissenschaftlerin am Institut für Europäische Politik in Berlin. „Wir haben gesagt, dass nach dem Bau der Pipeline russische Truppen in die Ukraine einmarschieren werden.“
Die Reue ist groß in der SPD. Allerdings sollten die vergangenen Erfolge der Ostpolitik nicht ignoriert werden. Bahr und Brandt lebten in einer anderen Zeit und waren scharfsinnige Strategen und Schlichter. Außerdem haben sie verstanden, dass es neben Annäherung und Kooperation auch eine gewisse Stärke braucht. „Zu Zeiten von Willy Brandt betrug der Verteidigungshaushalt mehr als drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts“, sagte SPD-Chef Klingbeil. Im Jahr 2020 lag dieser Prozentsatz kaum über 1,4 %.
Rückkehrpunkt
Deutschland hat in den letzten Jahrzehnten nie das Nato-Ziel erreicht, mindestens 2 % seines BIP für die Verteidigung auszugeben. Das muss sich jetzt ändern. Bundeskanzler Olaf Scholz sprach kürzlich von einer „Wende“ in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik und kündigte 100 Milliarden Euro für die Modernisierung der Bundeswehr an. Zudem muss die Abhängigkeit Russlands vom Energiesektor durch die Suche nach neuen Gas- und Öllieferanten und den Ausbau erneuerbarer Energien reduziert werden.
Scholz, der auch an der Bahr-Gedenkveranstaltung teilnahm, warf die Frage auf, was Willy Brandt und Egon Bahr in der aktuellen Situation raten würden. Auch nach dem Einmarsch in die Ukraine hält der Bundeskanzler Bahrs Aussage für richtig, Frieden in Europa sei nur mit Russland möglich, nicht gegen Russland.
„Aber gleichzeitig müssen wir erkennen, dass die aktuelle Politik der russischen Führung eine echte Bedrohung für die Sicherheit in Europa darstellt. Dies ist der bedauerliche Ausgangspunkt einer neuen Politik.“ [alemã] für Russland, die im Sinne von Egon Bahr mit einem nüchternen Blick auf die Realität beginnen, aber nicht dort stehen bleiben muss“.
Wer Frieden wolle, müsse verhandlungsbereit sein, sagte Scholz. „Außerdem halten wir die Kommunikationswege offen und werden jede Gelegenheit zur Vermittlung nutzen.“
Putin von den Russen unterscheiden
Olaf Scholz ist es auch sehr wichtig, keine Gleichsetzung zwischen Putin und Russland zu machen. „Es war nicht das russische Volk, das die endgültige Entscheidung getroffen hat, die Ukraine anzugreifen. Dieser Krieg ist Putins Krieg“, sagte er. Diese Differenzierung sei auch wichtig, „um die Aussöhnung zwischen Deutschen und Russen nach dem Zweiten Weltkrieg nicht zu gefährden“, bewertete die Bundeskanzlerin. Es ist auch wichtig für diejenigen, die in Russland gegen den Krieg und gegen Putin demonstrieren.
Bei seinem Besuch in Moskau Mitte Februar traf der Bundeskanzler auch mit Vertretern der russischen Zivilgesellschaft zusammen. Jemand habe ihm gesagt: „Weißt du, die Demokratie wird von uns Menschen geboren“, wird Scholz zitiert. Tatsächlich war dies eine Aussage, die Egon Bahr und führende westdeutsche Sozialdemokraten verteidigten, als die Berliner Mauer fiel.
Als 1989 Zehntausende auf den Straßen der DDR demonstrierten, hielt die SPD-Spitze noch an der im Niedergang begriffenen KPD als bevorzugtem Gesprächspartner fest. Später stellte Egon Bahr fest, dass dies ein Fehler war. Wenig Beachtung fand die wachsende Opposition im Land, nämlich die Bürgerrechtler, die unter der DDR-Diktatur auftauchten.
Autorin: Sabine Kinkartz
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