Nord Stream 2 ist eines der wenigen außenpolitischen Themen, das die Informationsflut über eine Pandemie durchbrechen könnte. Die Festnahme von Alexei Nawalny und die Unterdrückung von Protesten, die seine Freilassung forderten, haben den Fall erneut auf den Titelseiten von Zeitungen und Fernsehprogrammen gezeigt. Auslöser zum Handeln war damals, Ende August, die Vergiftung eines russischen Oppositionspolitikers. Das von Anfang an umstrittene Energieprojekt wurde zu einem großen Ausbruch in den deutsch-russischen Beziehungen. Aber ist Berlin bereit, in dieser Frage den Tisch zu ändern? Daran bestehen berechtigte Zweifel.
Kritik an der direkten Gaspipeline von Russland nach Deutschland durch die Ostsee wurde bereits bei der Vertragsunterzeichnung zum Bau geäußert. Nord Stream 1 ist seit 2011 in Betrieb. Ein Aussetzen des Baus des zweiten Rohrpaares ist jedoch erst ein realistisches Szenario geworden, seit die USA Ende 2020 Sanktionen gegen die am Projekt beteiligten Unternehmen verhängt haben. Washingtons Intervention hat die letzten Kilometer der Pipelines vor der deutschen Küste deutlich gebremst.
Warum gibt Deutschland Nord Stream 2 nicht auf?
Die Debatte zu diesem Thema hat inzwischen auch in Deutschland an Fahrt gewonnen. Oppositionspolitiker der Grünen fordern unter Berufung auf das Schicksal Nawalnys und die Rechte der Bürger in Russland einen sofortigen Baustopp. Auch einige Politiker der regierenden Christlich-Demokratischen Partei Deutschlands befürworten ein energisches Vorgehen gegen Moskau.
Die Antwort der Bundesregierung auf solche Forderungen ist immer dieselbe: Es ist ein wirtschaftliches Projekt, kein politisches. Auf einer Pressekonferenz mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron hat Bundeskanzlerin Merkel möglicherweise zum 100. Mal gesagt, dass die Sanktionen gegen Russland im Zusammenhang mit der Festnahme von Nawalny verlängert werden könnten. Ihre Position zu Nord Stream 2 bleibt jedoch vorerst unverändert.
Niemand sollte es „vorerst“ überschätzen. Denn Deutschland wird den Bau von Nord Stream 2 aus verschiedenen Gründen nicht stoppen. In erster Linie würde ein solcher Schritt das Vertrauen der Wirtschaft in eine Politik erschüttern, die beide Seiten als äußerst wichtig erachten. Berlin drohten jedoch Schadensersatzansprüche in Milliardenhöhe, da das Projekt in Deutschland alle erforderlichen Genehmigungen erhalten hat.
Besondere Beziehungen zwischen Deutschland und Russland
Und es geht nicht nur um Geld. Ein Verzicht auf Nord Stream 2 würde die 50-jährige Tradition der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und Moskau nicht nur im Energiesektor brechen. Radikale Schritte sind kein Bereich deutscher Diplomatie, insbesondere nicht mit Russland, zu dem Deutschland ein besonders angespanntes Verhältnis hat. Das Lösen der Notbremse würde nun auch bedeuten, Angela Merkel und ihre Regierungskoalition zu verlieren. Schließlich stellten sie das Projekt weder nach der Annexion der Krim und dem Krieg in der Ostukraine noch nach der Ermordung des russischen Oppositionspolitikers Boris Nemzow oder dem Angriff russischer Hacker auf den Deutschen Bundestag in Frage.
Eine Beendigung des Projekts durch eine EU-Entscheidung wäre für Berlin wohl die einzige Möglichkeit, hohe Schadensersatzansprüche zu vermeiden. Polen und insbesondere die baltischen Republiken freuen sich auf diesen Schritt. Die Einheit, die die EU braucht, ist jedoch nicht so sicher. Selbst die relativ milde Verlängerung der EU-Sanktionen gegen Russland wegen Moskaus Vorgehen in der Ukraine wurde von Ländern wie Italien und Österreich immer wieder in Frage gestellt. Zumindest hat Brüssel damit keine Eile, und das aus gutem Grund.
Nur was erreicht werden kann, muss aufs Spiel gesetzt werden
Daher sind alle Diskussionen über die Beendigung von Nord Stream 2 bestenfalls trügerisch. Aufrufe, den Bau der Near-Completion-Pipeline zu stoppen, werden zu leeren Worten, gefolgt von keiner Aktion. Und das macht dem Kreml sofort die Schwäche Deutschlands und Europas sichtbar. Das hat Deutschlands Image bereits enorm geschadet. Diese illusorischen Aufrufe haben den gegenteiligen Effekt: Sie stärken die Position des russischen Präsidenten Wladimir Putin sowohl gegenüber der EU als auch international. Nach dem Motto: Schau! Europa kann nichts tun!
In diesem Zusammenhang verwundert es nicht, dass EU-Chefdiplomat Joseph Borrell gedemütigt wurde, als bei seinem Besuch in Moskau die Abschiebung von drei europäischen Diplomaten, darunter einem Deutschen, angekündigt wurde.
Signale, die Moskau versteht
Die Konsequenz kann sein, dass der Bau des North Stream 2 nicht aufhört, sondern eine leere Drohung stoppt. Dies ist ein altes diplomatisches Erfolgsrezept – Sie können sich nur mit dem erschrecken, was Sie zu erreichen bereit sind.
Die Sanktionen gegen Russland sind knapp, das wissen erfahrene Politiker. Im Falle einer Pandemie wurde dieser Handlungsspielraum weiter reduziert. Das bedeutet nicht, dass Berlin Moskau nichts vorzuwerfen hat, sei es sein Vorgehen gegen die russische Opposition, Menschenrechtsverletzungen oder Verstöße gegen das Völkerrecht.
In jüngster Vergangenheit etwa die Ausweisung von Diplomaten nach der Vergiftung des ehemaligen Doppelagenten Sergej Skrippa und seiner Tochter in Großbritannien oder sektorale Wirtschaftssanktionen nach dem Abschuss eines MH17-Fluges über der Ostukraine. Moskau versteht solche Signale durchaus. In jedem Fall ist es besser, Nord Stream 2 zu stoppen, als leere Drohungen.
Die hier geäußerte Position ist die des Kommentators und spiegelt nicht unbedingt die Position der polnischen Redaktion wider.
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