„Zur Wartung geöffnet.“ Deutscher Pavillon auf der Biennale von Venedig von Arch+, Summacumfemmer und Büro Juliane Greb | Über Architektur und vieles mehr

«Zur Wartung geöffnet / Zur Wartung geöffnet» verwandelt den monumentalen Deutschen Pavillon in einen Wohn(re)produktionsort. Unter Einbeziehung verschiedener zivilgesellschaftlicher Gruppen wie der Assemblea Sociale per la Casa (ASC) werden Universitätsstudenten und Handwerkslehrlinge im Rahmen eines 1:1-Wartungsworkshop-Programms bei der Wartung, Reparatur und Pflege der sozialen Infrastruktur in ganz Venedig helfen. Der gemeinschaftliche Eingriff in den Pavillon und die Stadt beschränkt sich nicht auf eine Kritik an der Biennale als Format und Architektur als Disziplin, vielmehr beleuchtet der praxisorientierte Ansatz die vielfältigen Möglichkeiten architektonischen Handelns zur Transformation und Gestaltung. inklusive und sozialökologische Städte.



Materialdepot. „Open for Maintenance“ von Arch+, Summacumfemmer, Büro Juliane Greb, 2023.

Rampe
1938 baute der deutsche Architekt Ernst Haiger den Bayerischen Pavillon aus dem Jahr 1909 im Sinne der NS-Ideologie um und verwandelte ihn in die monumentalistische Architektur, die wir heute kennen. Seitdem ist sein Portikus mit vier massiven geriffelten dorischen Säulen geschmückt, die durch fünf Stufen von den Giardini-Gärten getrennt sind. Dieses Gebäude ist ein Vektor einer architektonischen Ideologie, die stolz ihre Überlegenheit und ihren Machtanspruch behauptet. Wer seinen Ansprüchen nicht gerecht wird, wird systematisch ausgeschlossen, nicht nur im politischen und kulturellen Sinne, sondern auch im physischen Sinne: Der Klassizismus, von dem dieser Pavillon seine Merkmale erbt, ist seit jeher als Ganzes modelliert, stimmig, gut koordiniert. Im Nationalsozialismus mit einem rassistischen Ideal, bei dem die Vernichtung anderer Körper im Mittelpunkt stand. «Für Wartungsarbeiten geöffnet» sieht in der Instandsetzung der bestehenden Bausubstanz eine Chance zur strukturellen und ideologischen Anpassung, die die Bedürfnisse marginalisierter Gruppen und fähigkeitsbenachteiligter Institutionen in den Mittelpunkt stellt. Im Zuge der temporären Umgestaltung des Eingangs zum Deutschen Pavillon wird eine halbkreisförmige Zugangsrampe hinzugefügt, die den Zugang nicht nur für Besucher mit eingeschränkter Mobilität, sondern auch für Reinigungskräfte, Sicherheitspersonal und Techniker mit schwerem Gerät erleichtert. Die Rampe umrahmt ein neues öffentliches Podium, das von der LOFFT FORWARD DANCE COMPANY – DAS TEĀTRIS mit gemischter Kraft in Zusammenarbeit mit dem Programmpartner Goethe-Institut bei der Eröffnung des Pavillons aktiviert wird.



Der Neubau beinhaltete eine Zufahrtsrampe zum Deutschen Pavillon. „Open for Maintenance“ von Arch+, Summacumfemmer, Büro Juliane Greb, 2023.

Materialdepot
Am Ende jeder Biennale werden, vor den Augen der Besucher verborgen, Tonnen von Ausstellungsmaterialien per Hand, mit Handkarren und mit Booten durch Venedig transportiert. Nur ein Teil davon wird wiederverwendet. Vor allem weil es in der Stadt nur wenige Lagerflächen gibt und die Logistikkosten bekanntermaßen hoch sind (häufige Probleme beim zirkulären Bauen), landen die meisten weggeworfenen Materialien direkt auf der nächsten Deponie oder Recyclinganlage. Hier manifestiert es sich.“Für Wartungsarbeiten geöffnet»: Die Übernahme des Beitrags von Maria Eichhorn und die Verlegung des Bauwerks auf die Kunstbiennale 2022 unmittelbar nach Ausstellungsschluss hält nicht nur die forensische Untersuchung der Geschichte des Pavillons für ein weiteres Jahr sichtbar, sondern ermöglicht auch den unmittelbaren Zugang zum Pavillon und seiner Nutzung als Material. Kaution. Die aus fast 40 Länderpavillons und Exponaten zusammengetragenen Materialien wurden in einem körperlich anstrengenden Prozess in Zusammenarbeit mit Rebiennale/R3B von der Mülldeponie gerettet und in den Deutschen Pavillon verbracht. Diese „Spolien“ der vorherigen Biennale sind Teil der baulichen Eingriffe des Deutschen Pavillons geworden, die allesamt aus zurückgelassenen Materialien gefertigt wurden. Während der Architekturbiennale 2023 und mithilfe einer neuen digitalen Datenbank, die in Zusammenarbeit mit Concular entwickelt wurde, werden die Materialien inventarisiert und in einem Programm von 1:1-Wartungsworkshops für die weitere Bearbeitung bereitgestellt.



Spolia de la Biennale Arte 2022 (Teil: Schweizer Pavillon). „Open for Maintenance“ von Arch+, Summacumfemmer, Büro Juliane Greb, 2023.

Werkstatt
Die gewinnorientierte Architekturproduktion konzentriert sich auf Abriss und Neubau statt auf Reparatur, auf Wachstum statt auf Suffizienz und Instandhaltung. Es widerspricht allen sinnvollen ökologischen und sozialen Veränderungen, die in den heutigen Krisen erforderlich sind. Derzeit handelt es sich bei mehr als der Hälfte der Bauprojekte in Europa um Renovierungs- und Umbauarbeiten. Architektur zu praktizieren bedeutet in Zukunft vor allem, Bestehendes zu reparieren. Wartung und Reparatur erfordern Werkzeuge, Kenntnisse und Techniken. Sie stehen allen Besuchern in einer frei zugänglichen Werkstatt im Deutschen Pavillon zur Verfügung. Ein Workshop-Programm, an dem lokale Organisationen aus verschiedenen Ländern sowie Universitäten und Ausbildungsanbieter beteiligt sind, wird diese Bemühungen über die Biennale hinaus in die Praxis umsetzen: Gemeinschaftsprojekte werden zu kleinen Renovierungen in und um Venedig führen. Anhand realer Interventionen erfahren die Teilnehmer, dass die (Re-)Produktion von Raum untrennbar mit sozialen und ökologischen Fragen verbunden ist.



Spolia mit mehr als 40 verschiedenen Pavillons der Biennale Arte 2022. Arch+, Summacumfemmer, Büro Juliane Greb „Offen für Wartungsarbeiten“, 2023.

Badezimmer
Die Umwandlung des Deutschen Pavillons in einen wohnlichen (Re-)Produktivitätsarbeitsplatz beinhaltet die Integration der bisher im Gebäude fehlenden sanitären Infrastruktur. Das Badezimmer ist auch eine Antwort auf verschiedene drängende Probleme im Zusammenhang mit der notwendigen „Sanitärrevolution“: Aus ökologischer Sicht wird das Abwasserentsorgungsnetz angesichts der anhaltenden Dürren zunehmend unhaltbar. Besonders akut ist das Problem in Venedig, wo die meisten Toiletten mangels eines Abwassersystems direkt in die Kanäle entleert werden. (Nur ein kleiner Prozentsatz der Gebäude ist mit Klärgruben ausgestattet.) Wir brauchen alternative Lösungen, um den Wasserverbrauch zu reduzieren und Nährstoffkreisläufe zu schließen. «Für Wartungsarbeiten geöffnet» präsentiert einen erschwinglichen Urinableitungsprototyp für eine Trockentoilette und ein Unisex-Urinal in Kombination mit einem Urinaufbereitungsreaktor. In Zusammenarbeit mit dem Biobauernhof Agriluska in der Region Venetien werden menschliche Abfälle kompostiert und dann als Dünger wiederverwendet (Urin wird in einem Reaktor vor Ort gedüngt). Auf gesellschaftspolitischer Ebene sind Instandhaltung und Sauberkeit jedoch auch mit Fragen der Gerechtigkeit in Bezug auf Geschlecht, Behinderung, Rasse und Klasse verknüpft. Die Bedeutung der Pflegearbeit wird durch die Hinzufügung von Wickel-, Wasch- und Reinigungsutensilien zusätzlich betont.



Badezimmer. „Open for Maintenance“ von Arch+, Summacumfemmer, Büro Juliane Greb, 2023.

Kochnische
Wartung ist ein Prozess, dessen Bedingungen von der Gemeinschaft ausgehandelt werden müssen. Zivilgesellschaftliche Gruppen spielen eine entscheidende Rolle bei der Erhaltung und Instandhaltung baulicher und sozialer Infrastruktur. Kommunikation, gegenseitige Unterstützung und Organisation erfordern vielfältige niederschwellige Räume für Kommunikation und kollektive Betreuungsarbeit. Ein Teil von „Für Wartungsarbeiten geöffnet» ist eine kleine Küche, die zur kommunikativen Schaltzentrale werden soll. Hier wird ein breites Netzwerk von Organisationen und Aktivistengruppen mit ihren Forderungen im Bereich der Umwelt-, Sozial- und Stadtpolitik vertreten sein. Plakate, Broschüren und andere Kommunikationsmaterialien, die in der Küche gesammelt werden, werden die Arbeit rund um die sozialen Kämpfe für das Recht auf die Stadt Venedig und in Deutschland ansässige Organisationen widerspiegeln und fördern. Das Design des amerikanischen Küchenstandes bezieht sich auf die Arbeit İlan Panosu / Billboard / Plakatwand, die Maria Eichhorn seit 1995 in verschiedenen Iterationen ausstellt.



Eine Küchenzeile. „Open for Maintenance“ von Arch+, Summacumfemmer, Büro Juliane Greb, 2023.

Versammlungsraum
Wohnraum in städtischen Ballungsräumen wird immer unbezahlbarer, teilweise aufgrund des Tourismus, der im Fall von Venedig durch die Biennale noch verschärft wird. Da die Bauindustrie für mehr als 40 Prozent der weltweiten CO2-Emissionen verantwortlich ist, ist Bauen nicht immer die richtige Antwort. Die sozialen und ökologischen Folgen dieser Ereignisse spüren besonders verletzliche Gruppen, die weltweit (räumliche) Pflegearbeit bei der Erhaltung und Instandhaltung des Gebäudebestands leisten. Die komplexen Krisen der Architektur können nur durch neue Formen der Zusammenarbeit zwischen Experten und Zivilgesellschaft gelöst werden. Der Tagungsraum im Deutschen Pavillon bietet Gelegenheit für einen solchen Austausch. Hier können sich Besucher spielerisch mit dem Gesehenen und Erleben auseinandersetzen. Sie können Taschen aus Restmaterialien der Kunstbiennale 2022 anhand von Modellen des Haus der Materialisierung herstellen oder das von LXSY Architekten in Zusammenarbeit mit Impact Hub Berlin und Concular entwickelte Brettspiel Trivial Circuit spielen, das ihnen hilft, den Komplex zu verstehen . Reorganisation. Planungsprozesse beim zirkulären Bauen.



Konferenzraum. „Open for Maintenance“ von Arch+, Summacumfemmer, Büro Juliane Greb, 2023.

Wartungswerkstattprogramm 1:1
Während der Biennale organisieren die Kuratoren in Zusammenarbeit mit der Venice Biennale Laboratory Series der Sto Foundation und AIT Dialog ein Workshop-Programm, das darauf abzielt, die Grundidee von zu demonstrierenFür Wartungsarbeiten geöffnet»: Nur eine soziale Wende in der Architektur wird uns zu einer nachhaltigen Praxis führen. Im Rahmen des Programms werden Architekturstudenten und -lehrlinge mit lokalen Organisationen an spezifischen Projekten in Venedig zusammenarbeiten, die sich auf die Pflege, Reparatur und Instandhaltung bestehender Gebäude sowie die Aufwertung und Anerkennung der damit verbundenen Arbeit konzentrieren. Die Teilnehmer werden sanitäre Einrichtungen verbessern, Rampen bauen, Gemeinschaftsmöbel entwerfen, Zäune streichen und Dächer reparieren.

Das Programm unterstützt die bestehenden materiellen und sozialen (Infrastruktur-)Strukturen, die die negativen Auswirkungen der Kommerzialisierung Venedigs neutralisieren und die soziale Inklusion benachteiligter Gruppen aktiv fördern. Eine voll ausgestattete Werkstatt und Materiallager im Deutschen Pavillon dient als produktive Infrastruktur und Ausgangspunkt für Interventionen im gesamten Stadtgebiet. Während der Seminare leben die Teilnehmer zusammen und fördern so einen Dialog, der bei einer Networking-Veranstaltung im Herbst 2023 vertieft wird.

Amal Schneider

"Dezent charmanter Speck-Experte. Typischer TV-Vorreiter. Leidenschaftlicher Zombie-Liebhaber. Extrem introvertiert. Web-Praktiker. Internetaholic."

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert