Russlands Angriff auf die Ukraine. Was hat Putin vor? „Alteuropäische Naivität“

  • Jetzt droht ein langer Krieg und der Tod von Hunderttausenden Menschen. Eine humanitäre Katastrophe ist möglich
  • Ein paar Sanktionen und das Einfrieren von Konten werden Putin nicht zum Rücktritt veranlassen. Es ist an der Zeit, dass die deutsche Politik die entscheidenden Entscheidungen trifft
  • Wir werden diese Wunden nicht mit Zugeständnissen und Pazifismus heilen. Putin will das 19. Jahrhundert wiederbeleben. autokratische Geopolitik mit Hilfe von Desinformation und Militär. Wir müssen uns der modernen und demokratischen Politik des Bündnisses des 21. Jahrhunderts widersetzen.
  • Weitere ähnliche Informationen finden Sie auf der Onet-Homepage

Am 30. Juni 2011 saß ich mit mehreren Chefredakteuren auf dem Dach der russischen Botschaft Unter den Linden in Berlin. Es war ein Sommernachmittag und der Botschafter lud uns zum Mittagessen ein. Kurz zuvor hatte der Deutsche Bundestag dem Atomausstiegsgesetz mit namentlicher Abstimmung zugestimmt und dabei 513 von 600 Stimmen erhalten.

Der Botschafter blickte auf den Reichstag und nahm zu Beginn des Essens sein Glas Wodka, das vor jedem Deckel gefüllt war. Mit freundlicher Stimme sagte er: – Für die Gesundheit der Bundesregierung! Es ist ein guter Tag für die russische Energiepolitik, es ist ein guter Tag für Russland.

Inzwischen ist bekannt, dass der russische Botschafter recht hatte. Beeinflusst von den Emotionen rund um die Katastrophe von Fukushima traf Deutschland eine falsche Entscheidung, die zu einer unnötigen Abhängigkeit von russischer Energie und Politik führte. Das Ergebnis war Nord Stream 2 und die tiefe Entfremdung der Vereinigten Staaten von Deutschland und Europa. Wladimir Putin ist in einem historisch unvergleichlichen Ausmaß erstarkt.

Europa glaubte an Putins Sinn

Jetzt begann ein Krieg mit der Ukraine. „Unerwartet“ – sagen manche. „Wie erwartet“, sagen andere. Vor wenigen Tagen, auf der Münchner Sicherheitskonferenz, spaltete sich der Westen. Die Amerikaner waren sich einig: Es wird Krieg geben. Die Europäer argumentierten das Gegenteil: „Putin wird es nicht tun, alles ist eine Taktik“ – sagten sie.

Europa glaubte an die Bedeutung von Putin und die Amerikaner in seinen Informationen.

Wieder sahen wir dieselbe alte europäische Naivität und eine besonders naive deutsche Sehnsucht danach, dass Autokraten sich nach denselben ethischen, moralischen, rationalen und emotionalen Prinzipien verhalten wie sie selbst. Aber das ist nicht der Fall: Autokraten meinen oft genau das, was sie sagen, und tun oft genau das, was sie sagen. Das war vor 100 Jahren so und ist auch heute noch so.

Wir stehen vor einem langen und tragischen Krieg und der Aussicht auf Hunderttausende von Toten. Es droht eine humanitäre Katastrophe.

Natürlich ist niemand daran interessiert, Militäroperationen zu eskalieren und eine Spirale der Gewalt auszulösen. Nur ein paar Sanktionen oder das Einfrieren mehrerer Konten werden Putin nicht dazu bringen, sich zurückzuziehen. Es ist an der Zeit, dass die deutsche Politik eine Entscheidung trifft. Vermeiden und Handeln zu unterlassen reicht nicht mehr aus. Europa braucht Deutschland und Amerika braucht Europa.

Eine Chance für eine neue Bundesregierung

In dieser schwierigen Situation liegt auch eine große Chance für eine kompetente neue Regierung. Sie verbindet Frische (Baerbock – Chef des Auswärtigen Amtes – Anm. d. Red.) mit Erfahrung (Scholz – Bundeskanzler – Anm. d. Red.). Der paternalistische und herablassende Ton, den unsere Bundeskanzlerin von Zeit zu Zeit anschlägt, wäre heute höchst unangebracht.

Annalena Baerbock hat auf der Münchner Sicherheitskonferenz eine hervorragende Rede gehalten. Empathisch und gleichzeitig ausdrucksstark. Er verwies auf die Solidarität der Demokratie im Kampf gegen die russische Aggression. Und sie war konkret. Sie haben auch Nord Stream 2 zu Recht in Frage gestellt (die vorübergehende Aussetzung der Pipeline-Genehmigung ist der richtige erste Schritt).

Es war ein Aufruf zu einem festen Bündnis auf der Basis des Westens, den seit anderthalb Jahrzehnten kein deutscher Außenminister mehr ausgesprochen hatte. Es war der richtige Ton und das richtige Konzept zur richtigen Zeit. Erst in der anschließenden Frage-Antwort-Runde sahen wir eine Rückkehr zu alten Mustern. Auf die Frage des Diplomaten Christoph Heusgen, warum keine Waffenlieferungen aus Deutschland in die Ukraine erfolgten, tauchten alte Texte über die deutsche Geschichte und ihre antimilitaristischen Folgen auf.

Die Menschen in der Ukraine brauchen unsere Solidarität

Plötzlich wurde klar, dass einige deutsche Politiker immer noch die falschen Schlüsse aus der Geschichte des Nationalsozialismus und des Holocaust zogen. Statt „keine militärische Intervention mehr“ sollten wir „kein Völkermord mehr, kein Rassismus mehr, keine Zugeständnisse mehr“ verkünden.

Was die Grünen von Joschka Fischer auf dem Balkan begonnen haben, müssen die Grünen von Annalena Baerbock nun in der Ukraine vollenden: wir brauchen eine konzeptionelle Neuausrichtung der deutschen und damit der europäischen Außenpolitik. Die Menschen in der Ukraine brauchen unsere Solidarität. Worte reichen nicht aus, diese Menschen brauchen unsere Hilfe. Sie brauchen ein Bündnis, das auf demokratischen Werten basiert. Obwohl es schwierig sein kann, brauchen sie auch Waffen.

Es geht hier um die Situation in der Ukraine und in Russland. Das Vorgehen der USA und der EU in der Ukraine wird von den Chinesen genau beobachtet, die dann entscheiden werden, was dies für Taiwan bedeutet. Bleibt Taiwan, ein Land, in dem mehr als 60 Prozent der weltweiten Mikroprozessorproduktion stehen, unabhängig? Oder vielleicht kommt es in ein paar Tagen zu einer chinesischen Invasion und Annexion Taiwans oder zu einem gut organisierten Putsch von innen?

„Nein, die Chinesen nicht“, sagen chinesische Experten und Veteranen der EU-Außenpolitik. Dafür sind die Chinesen zu sensibel. Es wird nur von denselben Leuten gesagt, die Putins gesunden Menschenverstand immer betont haben. Hoffentlich haben sie Recht, aber ich glaube ihnen nicht.

Nach dem beschämenden Rückzug der USA aus Afghanistan wird die Weltordnung nun in der Ukraine auf die Probe gestellt. Es braucht eine neue transatlantische Außenpolitik, und es ist auch die Stunde der Wahrheit für die EU. Frankreich hat unter der mutigen Führung von Präsident Macron diese Chancen bereits erkannt. Jetzt muss auch Deutschland seine Aufgabe erfüllen. Der deutsche Pazifismus wird einen Krieg in der Ukraine nicht verhindern.

Der Rest des Artikels ist unter dem Video verfügbar.

Es ist nicht auszuschließen, dass Putin nicht gleich das ganze Land besetzt

Es gibt noch viele Szenarien, wie sich die Situation entwickeln wird, und jedes von ihnen braucht einen starken und geeinten Westen. Von der schlimmsten Variante, also dem großen Krieg, zur besten: Einigung in der Symbolfrage der Nato-Osterweiterung.

Es ist nicht auszuschließen, dass Putin nicht gleich das ganze Land besetzt. Vielleicht reicht ihm ein bequemer Korridor nach Sewastopol. Wenn der Westen dann von diplomatischem Erfolg spricht, weil ein großer Krieg verhindert wurde, wird Putin sein Ziel erreichen, weil seine Drohungen mit Zugeständnissen belohnt werden.

Wenn es nach Russland geht, wird China dasselbe tun. Und sie werden dank der Kombination aus wirtschaftlicher und politischer Macht erfolgreich sein. Amerika wird dann zur einstigen demokratischen Führungsmacht und Europa zu einem eurasischen Themenpark, in dem asiatische Touristen die Spuren der Renaissance in Venedig und die Schönheit der Mecklenburgischen Seenplatte bestaunen werden.

Ich habe Putin einmal in meinem Leben getroffen. Ein kurzes persönliches Interview fand 2005 im Kreml statt, wenige Monate nachdem Forbes-Chefredakteur Pavel Chlebnikov unter ungeklärten Umständen direkt vor der Redaktion in Moskau erschossen worden war. Putin sprach leise, in perfektem Deutsch, fast ohne Akzent.

Ein Teil dieses halbstündigen Treffens ist mir besonders in Erinnerung geblieben. Es ging um den Islam. In diesem Bereich bestünden potenziell gemeinsame Interessen der USA, der EU und Russlands. Ja, sagte mir Putin, wir haben viel gemeinsam, wenn die Amerikaner uns nicht immer wie eine Kolonie behandelt haben: – Unsere russische Kultur ist viel älter und tiefer als die amerikanische Kultur, wir haben unseren Stolz.

Und darum geht es beim Stolz. Die Vereinigten Staaten haben es unter George Bush Junior und besonders unter Barack Obama oft verletzt. Seitdem zahlt die Welt den Preis für diese unnötigen Demütigungen.

Wir werden diese Wunden jedoch nicht mit Zugeständnissen und Pazifismus heilen. Putin will das 19. Jahrhundert wiederbeleben. autokratische Geopolitik mit Desinformation und Militär. Wir müssen uns gegen eine moderne, demokratische, selbstbewusste und starke Bündnispolitik des 21. Jahrhunderts stellen.

Mathias Döpfner ist Vorstandsvorsitzender von Axel Springer und ehemaliger Journalist. Er gehört der Axel Springer SE seit 1998 an und ist seit 2002 Vorsitzender. Er ist zudem Vorsitzender des Bundesverbandes der Digital- und Zeitungsverleger (BDZV).

Wir freuen uns, dass Sie bei uns sind. Abonnieren Sie den Onet-Newsletter, um unsere wertvollsten Inhalte zu erhalten

Helene Ebner

"Preisgekrönter Leser. Analyst. Totaler Musikspezialist. Twitter-Experte. Food-Guru."

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert