Soll das historisch aufgeladene Berlin wieder das politische Zentrum der größten und mächtigsten Deutschlands werden? Als die Bundesrepublik gegründet wurde, gab es keinen Zweifel. Die Männer und Frauen des ersten Deutschen Bundestages, die sich erstmals 1949 in Bonn trafen, betrachteten die Stadt nur als „Zuhause auf Zeit“.
Eine Zeit lang waren die meisten gegen Berlin
In Artikel 2 des Fusionsvertrags vom 31. August 1990 heißt es: „Die Hauptstadt Deutschlands ist Berlin“ und fügt hinzu, dass „die Frage des Sitzes von Parlament und Regierung nach der Herstellung der deutschen Einheit entschieden wird“.
Weniger als ein Jahr später kam die Stunde der Wahrheit. Vier Tage vor der entscheidenden Abstimmung ergab eine Umfrage unter Parlamentariern, dass nur 267 von ihnen für Berlin waren, 343 für Bonn. Doch am 20. Juni 1991, nach elfstündiger Debatte, übernahm Berlin unerwartet die Führung: 338 vs. 320. Wie ist dieser Stimmungswandel zu erklären? Mitverantwortlich für diese Wende war Wolfgang Schouble, der amtierende Bundestagspräsident.
Marke Schweizer Schäuble
In seinem 48. Lebensjahr bezog sich Schäuble in seiner Plenarrede auf die wechselvolle Geschichte der alten und neuen deutschen Hauptstädte. Er ging nicht, ohne historische Ereignisse zu erwähnen: den DDR-Aufstand am 17. Juni 1953, den Bau der Berliner Mauer im August 1961, den Fall der Mauer am 9. November 1989 und schließlich die Einheit Deutschlands am 3. Oktober 1990.
„Berlin war wie keine andere Stadt seit jeher ein Symbol für alle deutsche Einheit und Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit“, sagte ein christdemokratischer Politiker. „Die Solidarität der freien Welt mit Einheit und Freiheit war nirgendwo mehr ausgeprägter als in Berlin.
Nach der Rede standen Hunderte von Abgeordneten von ihren Sitzen auf und applaudierten eine Minute lang. Der ehemalige Bundeskanzler Willie Brand, Friedensnobelpreisträger und ehemaliger Regierungschef von West-Berlin, kam zu Schoble, um ihm die Hand zu schütteln.
Bundeskanzler Helmut Kohl, der damalige Außenminister Hans Dietrich Genscher und die prominenten Sozialdemokraten Willy Brand und Hans Johann Vogel unterstützten damals Berlin.
Die Gunst von Bonn
Auf Schäuble folgte Gerhart Baum, ein ehemaliger Innenminister, der in Dresden (also im Osten) geboren wurde, aber im Rheinland (Westen) aufgewachsen und sozial geworden ist. Er stimmte Schäuble klar zu: Berlin ist in besonderer Weise ein Symbol für Freiheit und Rechtsstaatlichkeit.
„Aber wäre Bonn nicht auch ein Symbol für 40 Jahre erfolgreiche Demokratie, die das Ansehen der Bundesrepublik Deutschland in der Welt stärkte, ihre Integration in Europa vollendete und endlich die Möglichkeit der deutschen Einheit bewahrte?“
Dreißig Jahre später hat er seine Skepsis gegenüber Berlin nicht verloren. „Ich glaube immer noch, dass der Weg aus einer veralteten Hauptstadt und einem pluralistischen Land mit anderen Zentren eine gangbare Alternative gewesen wäre“, sagt die 88-jährige DW-Rentnerin. „Das politische Klima in Bonn war günstig für die Republik.“
Hoffnungen sind zusammengebrochen
Auch die Sozialistin Dagmar Enkelmane verband die zerbrochenen Hoffnungen mit einem Umzug von Bonn nach Berlin. Bei der Abstimmung 1991 war sie Parlamentsabgeordnete. „Wir haben uns erhofft, dass mit den Veränderungen die Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost und West schneller vorangetrieben wird“, sagt Enkelman.
„Aber es ist nicht passiert“, beklagte der derzeitige Präsident der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Der erst zur Jahrtausendwende vollzogene Wandel war ihrer Meinung nach vor allem ein „symbolischer Akt“.
Sie kritisiert auch, dass sich 30 Jahre nach der historischen Entscheidung immer noch die offiziellen Sitze von sechs Ministerien in Bonn befinden, die Regierung sei aufgeblasen und es gebe keine Kosteneinsparungen.
Autor: Marsels Fürstenau
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