In dem knapp 180-seitigen Abkommen zwischen SPD, Grünen und FDP spielen die Beziehungen zu Mittel- und Südosteuropa und sogar zu Deutschland und Russland eine untergeordnete Rolle. Das Abkommen enthält nur wenige Bemerkungen zu den durch Russland verursachten Konflikten in den ehemaligen Sowjetrepubliken und zum Krieg in der Ukraine. Die umstrittene Gaspipeline Nord Stream 2 wird nicht erwähnt.
Die geringe Priorität, die der Koalitionsvertrag der zukünftigen deutschen Ost-Europa- und Russland-Politik beimisst, ist überraschend und kein Zufall. Dies ist überraschend, da die Länder Mittel- und Südosteuropas, darunter insbesondere die Visegrad-Gruppe, wichtige Wirtschaftspartner für Deutschland sind und Deutschland das wichtigste Bindeglied zwischen Ost und West in der EU ist. Die deutsch-russischen Beziehungen haben in den letzten Jahrzehnten auch international an Bedeutung gewonnen und sind von besonderem Interesse für die deutsche Gesellschaft.
Dass im Koalitionsvertrag die osteuropäische Politik kaum erwähnt wird, ist wohl kein Zufall, denn sie ist eines der Hauptthemen des deutschen Koalitionskonflikts. Die SPD ist mit dem Kreml eher nachsichtig und hat wenig Kritik am Abbau des Rechtsstaats durch Jaroslaw Kaczynski und Viktor Orban gezeigt. Auf der anderen Seite spaltet sich die FDP in der Osteuropapolitik in ein Lager, das im Zweifel die wirtschaftlichen Interessen in den Vordergrund stellt, und ein Lager, das Menschen- und Bürgerrechte betont. Die Grünen plädieren für eine starke Haltung gegenüber dem Kreml und generell für eine sogenannte werteorientierte Außenpolitik, ein Thema, das neben dem Umwelt- und Klimaschutz zu den wichtigsten im Image der Partei gehört.
Starke Aktion
Die ersten Arbeitswochen der neuen Regierung in Berlin werden nun von der Osteuropa- und Russlandpolitik getrieben, dem vielleicht zweitwichtigsten Thema nach dem Kampf gegen das Coronavirus. Gründe sind unter anderem der Konfrontationskurs Polens im Rechtsstaatsstreit mit der EU, die drohende Sezession des bosnischen Serbenführers Milorad Dodik und vor allem die Verlegung russischer Truppen an die Grenze zur Ukraine.
Die neue deutsche Außenministerin Annalen Berbock hat bereits einige scharfe Äußerungen zu der möglichen Bedrohung gemacht. Sie drohte Russland mit „ernsthaften Konsequenzen“ im Falle eines Einmarsches in die Ukraine. Darüber hinaus ordnete sie nach einem Prozess gegen einen russischen Staatsbürger, der 2019 wegen der Erschießung eines ehemaligen tschetschenischen Militanten verurteilt wurde, sofort die Ausweisung zweier russischer Diplomaten an und berief einen russischen Botschafter ein. Ihr Vorgänger, der sozialdemokratische Außenminister Heiko Sister, war weniger energisch.
Vorsichtig und ohne Eskalation
Spricht man jedoch heutzutage mit der Regierungskoalition über die Osteuropa- und Russland-Politik der neuen Regierung, stößt man vielleicht auf viele Regeln und wenig konkrete Informationen, Hoffnungen und viele Sätze, die nach politischen Wendungen klingen. Die Koalitionspartner wollen den Streit offenbar nicht auskochen lassen und gehen sehr vorsichtig vor.
Nils Schmidt DW, außenpolitischer Sprecher des SPD-Bundestagsklubs, sagte zur Russland-Politik, mit dem Kreml sei in den letzten Jahren keine politische Einigung erzielt worden. – Wir dürfen jedoch nicht zulassen, dass der Verhandlungsfaden reißt, und gleichzeitig müssen wir Dinge klären – sagt er. Ein Deutsch-Spezialkurs ist keine Lösung. – Wir müssen Russland klar machen, dass es keinen bilateralen Dialog geben wird und dass wir ihn als NATO und EU führen werden.
Nord Stream 2 Ende der Invasion der Ukraine?
Schmid sagt, eine politische Bombe wie Nord Stream 2 sei entschärft worden. – Die Debatte, ob man für oder gegen Nord Stream 2 ist, ist vorbei, sagt der Sozialdemokrat. – Die Gaspipeline ist gebaut. Jetzt müssen wir uns erst einmal über die Rechtslage informieren und das Zertifizierungsverfahren abwarten, fügt er hinzu. Schmid will Nord Stream 2 weder unterstützen noch ausschließen, falls Russland Gaslieferungen als politische Waffe einsetzt oder in die Ukraine einmarschiert. „Es hat keinen Automatismus“, sagt er.
Grüne und FDP haben zumindest vordergründig eine klare politische Opposition zu Nord Stream 2 aufgegeben und wollen auch das Ergebnis des Zertifizierungsverfahrens abwarten. Es ist jedoch kein Geheimnis, dass die Grünen das Ende von Nord Stream 2 vor allem im Falle einer anhaltenden russischen Aggression in der Ukraine sehen. Robin Wagener, europapolitischer Sprecher der Grünen, spricht sehr weit. „Wenn Russland weiter eskaliert und die Ukraine erneut angreift, wird das ganz erhebliche Konsequenzen haben, die Grünen unterstützen klar“, sagt Wagener. Eine Kontroverse in der Koalitionspolitik zu Osteuropa und Russland sieht er derzeit nicht, allerdings hätten Grüne und SPD „andere Akzente“ auf Russland gesetzt. Trotz der Bedeutung der Fortsetzung des Dialogs mit Russland hat es beispielsweise keinen Sinn, einen Dialog zu führen, der nichts bewirkt.
Die slowakische FDP-Politikerin Renata Alta, langjährige Berichterstatterin für Mittel- und Osteuropa und jetzt Vorsitzende des Menschenrechtsausschusses des Bundestages, sagte im DW-Interview, sie habe sich persönlich gefragt, „warum North Stream 2 überhaupt gebraucht wird, wenn North Stream 1 ist“. nicht benötigt. gebraucht. “ „Außerdem haben wir gesehen, wie Putin in den letzten Monaten die Gaslieferungen instrumentalisiert hat“, sagte Alt. Daher ist es sehr wichtig, dass die neue Bundesregierung bei der Energieversorgung und beim Import von Rohstoffen unabhängiger von Russland, aber auch von den USA sein will.
Was sagt die deutsche Wirtschaft?
In der Rechtsstaatskoalition mit Polen und Ungarn herrscht etwas mehr Einigkeit. Nils Schmidt von der SPD geht sogar so weit, sich selbst zu kritisieren. Er spricht von „der mangelnden Bereitschaft der bisherigen Bundesregierung, Victor Orban zu beißen“. – Dies sei von Parteien und politischen Erwägungen diskutiert worden, weil Orbans Partei – Fidesz – wie die CDU – Mitglied der Europäischen Volkspartei ist, sagte Schmid. – Es war ein Fehler, der uns jetzt teuer zu stehen kommt. Was derzeit in Polen passiert, ist in gewisser Weise auch möglich, weil so viel für Ungarn verschwendet wurde.
Letzteres könnten auch Grüne und FDP unterstützen. Allerdings sieht Robin Wagener von den Grünen Brüssel vor allem in der Pflicht. „Wir sollten als Mitgliedstaat nicht selbst gegen Polen oder Ungarn vorgehen“, sagt er.
Renata Alts fordert die neue Regierung hingegen auf, nicht so locker zu sein wie die Vorgängerregierung. „Es ist sehr besorgniserregend, die nationalistischen und antidemokratischen Phänomene in Mittel- und Südosteuropa nicht zu unterschätzen, denn sie werden irgendwann sehr schwerwiegende Folgen für die gesamte EU haben“, sagt er. Der FDP-Politiker weist auch auf die Herausforderungen deutscher Unternehmen hin, etwa deutscher Autobauer in Ungarn. Große Unternehmen wie Daimler und BMW haben die Möglichkeit, sich zu Menschenrechten und Bürgern zu äußern.
Politikwechsel gegenüber dem Westbalkan
Bundestagsabgeordneter ist Josip Juratovich, SPD-Außenpolitiker, gebürtiger Kroate und langjähriger SPD-Experte auf dem Westbalkan. Bereits während der Großen Koalition forderte er von der Bundesregierung und der EU eine Änderung der Westbalkan-Politik, jedoch ohne Erfolg. Juratovich nennt man den sogenannten Berlin-Prozess, das seit 2013 bestehende Dialogformat der Bundesregierung mit dem Westbalkan, das der demokratischen Transformation der Region und der Integration in die EU dienen soll, der „Wanderzirkus“, den Angela Merkel „gesucht hat“. “ Autokraten wie der serbische Präsident Vucici und stabilisierten ihre Regime. – Der Widerspruch dieser Politik gegenüber dem Westbalkan besteht darin, dass sie einerseits der Region die Möglichkeit eines EU-Beitritts bietet, andererseits oft mit politisch diskreditierten Menschen kooperiert und autokratische Regime finanziert . zusätzlich zu den angehängten Bedingungen.
Politiker demokratischer und antinationalistischer Parteien sowie Vertreter der Zivilgesellschaft des Westbalkans freuen sich heute auf die neue Bundesregierung und insbesondere auf die grüne Außenministerin Anna Berbok. Ob dies gerechtfertigt ist, ist klar. Die Grünen befürworten eine stärkere Fokussierung auf die Region, während SPD und FDP generell wenig Interesse am Westbalkan haben. Jedenfalls fordert der Sozialdemokrat Juratowitsch noch einmal einen Wandel. – Es wäre ratsam, die Opposition zu unterstützen und die Zusammenarbeit zu fördern. Es gibt viele Kräfte, die bereit wären, zusammenzuarbeiten, um Autokraten wie Vučič endlich die Macht zu nehmen.
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