Die Bundesregierung will mit einer eigenen „Green Card“ versuchen, den enormen Arbeitskräftemangel im Land zu beheben. Branchenverbände beklagen seit einiger Zeit Fachkräftemangel und das Arbeitsministerium deutet an, dass Fachkräftemangel das Wirtschaftswachstum bremst.
Der Bundesverband der Deutschen Arbeitgeberverbände der Metall- und Elektroindustrie, Gesamtmetall, sagt, dass zwei von fünf Unternehmen der Branche die Produktion aufgrund von Arbeitskräftemangel beeinträchtigt haben. Der Zentralverband des Deutschen Handwerks (ZDH) stellt fest, dass dem Land einiges fehlt 250.000 qualifizierte Fachleute.
Die neue „Chancenkarte“, die Arbeitsminister Hubertus Heil kürzlich vorgestellt hat, will Ausländern die Einreise nach Deutschland erleichtern, um nach Stellenangeboten zu suchen, auch wenn sie noch kein Stellenangebot in Sicht haben.
Dazu müssen sie mindestens drei der folgenden vier Kriterien erfüllen:
- Ein Hochschulabschluss oder Berufsabschluss.
- Berufserfahrung von mindestens drei Jahren;
- Sprachkenntnisse oder früherer Aufenthalt in Deutschland;
- Unter 35 Jahre alt sein.
Aber Minister Heil sagte, es werde Grenzen und Auflagen geben. In Interviews mit der Presse betonte er, dass die Anzahl der Karten entsprechend dem von der Bundesregierung festgelegten Bedarf begrenzt wird.
„Hier geht es darum, qualifizierte Zuwanderer in einem reibungslosen Prozess zu gewinnen. Daher ist es wichtig zu sagen: Wer die ‚Chancenkarte‘ hat, kann sich während seines Aufenthalts selbst versorgen“, sagte Heil am Mittwoch dem WDR.
Bundesarbeitsminister Hubertus Heil bei einer Konferenz zur Fachkräftegewinnung in Berlin — Foto: REUTERS/Michele Tantussi
„Gute Gelegenheit für Ausländer“
Sowmya Thyagarajan, die Indien 2016 verließ, um in Hamburg in Luftfahrttechnik zu promovieren, sieht einige der Veränderungen positiv. Derzeit leitet er sein eigenes Unternehmen in Deutschland, Foviatech, das Software zur Rationalisierung von Transport- und Gesundheitsdiensten entwickelt.
„Ich denke, dieses Punktesystem kann eine große Chance für diejenigen sein, die aus dem Ausland kommen, um in Deutschland zu arbeiten“, sagt Thyagarajan im Gespräch mit der DW. „Vor allem wegen des Mangels an Nachwuchskräften in Deutschland.“
Bei der Einstellung bevorzugt das Unternehmen von Thyagarajan deutsche und EU-Bürger, allein schon wegen der Bürokratie, die andere Nationalitäten mit sich bringt.
Bei den vier von der Regierung vorgegebenen Kriterien macht er Vorbehalte: Qualifikation und Sprachkenntnisse seien wichtig, die anderen Voraussetzungen aber nicht so praktikabel.
„Ich bin mir nicht sicher, ob es sehr wichtig ist, dass der Arbeitnehmer unter 35 Jahre alt ist, weil es nicht notwendig ist, jung zu sein. Auf die Qualifikation kommt es an“, betont Thyagarajan.
Auch hinsichtlich der Mindesterfahrung von drei Jahren ist sie skeptisch, da ein Studium teilweise schon die nötige Erfahrung bringt. „Für einige Positionen ist Erfahrung nicht notwendig. Aber für andere ist Erfahrung wichtig.“
Doch es gibt Stimmen, die den neuen „Letter of Opportunity“ von Minister Heil ablehnen. „Sie baut große und unnötige Hürden auf, die das System weiter verkomplizieren“, sagt Holger Bonin, Forschungsdirektor am Institut für Arbeitsökonomie (IZA) in Bonn.
Für den Experten wird das Punktesystem nur mehr Bürokratie verursachen. „Warum vereinfachen sie den Prozess nicht? Geben Sie den Leuten ein Visum, um Arbeit zu suchen, und wenn sie innerhalb einer bestimmten Zeit nichts finden, müssen sie das Land verlassen?“, fragt Bonin.
„Das Hinzufügen zusätzlicher Punkte verkompliziert alles, und Arbeitgeber können entscheiden, ob diese Kriterien bei der Einstellung wichtig sind. Profis bräuchten also keine Karte als Vorauswahl“, betont er.
Bonin stimmt auch zu, dass einige der Kriterien für Arbeitgeber in Deutschland möglicherweise nicht so wichtig sind. Beispielsweise spielt es für ein internationales Unternehmen, dessen Mitarbeiter hauptsächlich auf Englisch kommunizieren, keine Rolle, ob die Kandidaten Deutsch sprechen oder in Deutschland gelebt haben.
Kulturelle und strukturelle Probleme
Deutschland hat im Vergleich zu anderen westlichen Nationen, die Fachkräfte anziehen wollen, einige kulturelle Handicaps: Zum einen ist Deutsch weltweit weniger verbreitet als Englisch.
„Fachkräfte suchen fast immer den Weg ins englischsprachige Ausland“, sagt Thyagarajan. „Bis zu einem gewissen Grad ist es wichtig [que nossos funcionários falem alemão], weil wir in Deutschland sind. Ich meine, es sind zumindest Grundkenntnisse erforderlich.“
Ein weiteres Problem ist, dass deutsche Arbeitgeber traditionell mehr Wert auf Diplome und Qualifikationen legen und diese in Deutschland nicht immer anerkannt werden oder Monate dauern, bis sie im Land angerechnet werden. „Diese Probleme werden nicht gelöst, indem man eine ‚Gelegenheitskarte‘ erstellt“, sagt Bonin.
Es gibt noch andere systemische Probleme für deutsche Arbeitgeber: Kommunalbehörden verwenden unterschiedliche Parameter zur Anerkennung von Diplomen und Qualifikationen; und Mitarbeiter müssen Titelübersetzungen weiterhin bei Notaren beglaubigen.
Minister Heil sagt, er wolle diese Bürokratien abbauen. „Ich halte es für sehr, sehr notwendig, dass das Land neben einem modernen Zuwanderungsgesetz auch den bürokratischen Moloch der Anerkennung von Berufsqualifikationen vereinfachen kann“, sagte Heil dem WDR.
Dafür wünsche er sich eine Bundesbehörde, die Zertifikate aus anderen Ländern schnell revalidieren kann, sowie Büros in Deutschland, die überlastete Konsulate im Ausland unterstützen können.
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